19 das emPfehleN Wir missioN weltweit 5–6/2021 WeiterDenken >> soNderbeitrag zum thema VoN Prof. dr. VolK r gäcKle schon lange keine gasbetriebenen Straßenlaternen mehr gibt, die abends angezündet werden mussten. Der Beruf wurde von der Elektrifizierung geschluckt. Auch die Digitalisierung wird in den nächsten 20 Jahren viele Berufe überflüssig machen, mit denen heute viele der Leserinnen und Leser dieser Zeilen ihr Geld verdienen. Wir leben in einer „disruptiven Zeit“. Das Modewort Disruption (vom englischen „disrupt“: zerstören, unterbrechen) beschreibt einen Prozess, bei dem traditionelle Geschäftsmodelle, Technologien, Produkte oder Dienstleistungen von neuen Problemlösungen oder Veränderungen radikal in Frage gestellt und verdrängt werden. Verbrennungsmotoren, Volkskirchen und Verkäufer/innen kommen an eine Grenze und müssen sich (radikal) verändern. Auch Mission wird sich verändern Auch wir als Liebenzeller Mission mit unseren Missionarinnen und Missionaren werden uns verändern müssen, und wir befinden uns schon in diesem Prozess. Der Grund dafür ist eigentlich ein sehr erfreulicher: 300 Jahre Missionsgeschichte waren sehr erfolgreich. Aus bescheidenen Anfängen im 18. Jahrhundert sind im 21. Jahrhundert im globalen Süden große Kirchen geworden. Ihre Vitalität und Mitgliederzahl überragt die europäische Christenheit bei Weitem. Es ist ein bisschen wie in einer Familie, nur eben im Maßstab von Kirchen und Jahrhunderten: Aus kleinen Kindern sind große Kinder geworden. Aus den großen Kindern sind Erwachsene geworden, die es gelernt haben, auf eigenen Beinen zu stehen, aber durchaus dankbar sind für die Unterstützung durch die Eltern mit Geld, Erfahrung und gutem Rat. Und aus den jungen Eltern sind mittlerweile alte Eltern geworden. Sie sind dankbar für das, was aus ihren Kindern geworden ist, aber auch ein bisschen wehmütig, dass die schöne Zeit mit den Kleinen vorbei ist. Und manchmal vergessen die alten Eltern, dass das eigentlich der Sinn der Elternschaft war: sich überflüssig zu machen, damit das Leben der Kinder gelingt und sie neues Leben hervorbringen. Veränderte Vorzeichen haben Folgen Und dann kann es sein, dass irgendwann die alten Eltern auf die Hilfe der erwachsenen Kinder angewiesen sind. Nichts anderes passiert im 21. Jahrhundert: Nachdem 300 Jahre lang junge Menschen von Europa aus in alle Welt gesandt wurden, verändern sich die Rahmenbedingungen. Mission hört nicht auf, aber Missionarinnen und Missionare werden in Zukunft andere Aufgaben und Rollen übernehmen – und vielleicht sogar anders heißen. Und schon jetzt beginnt eine Zeit, in der wir die Hilfe „unserer Kinder“ im globalen Süden brauchen. Der Fachbegriff lautet „Reverse Mission“ (umgekehrte Mission). Bei unseren katholischen Schwestern und Brüdern ist das heute schon Realität. In vielen deutschen Pfarreien tun Priester aus Indien, Tansania oder Nigeria ihren Dienst. Die Kinder pflegen die alten Eltern. Auch der große Auftrag der Weltmission erlebt eine disruptive Veränderung, damit die weltweite Gemeinde Jesu mit neuer Kraft in die Zukunft gehen kann. Das ist ja die andere Seite: Es geht nicht nur etwas verloren, sondern es entsteht auch etwas Neues und oft etwas Besseres. Der Verbrennungsmotor war nicht nur ein Segen. In vielen Ländern ohne Volkskirche ist die Christenheit gesünder und dynamischer. Und mal ehrlich: Würden wir es uns wünschen, dass Mission eine Einbahnstraße von Europa und Nordamerika in den Rest der Welt bleibt? Würden wir uns wirklich wünschen, dass die weißen Missionarinnen und Missionare aus dem Westen die Gebenden und Lehrenden und der Rest der Welt die Empfangenden und Lernenden bleiben? Das Neue Testament hat hier größere Visionen. Aber wir werden nur dann Teil von Gottes Zukunft sein, wenn wir bereit sind, uns und unsere Arbeit zu verändern – möglicherweise sogar radikal zu verändern. Zeiten disruptiver Veränderungen zeichnen sich durch eine Reihe von Merkmalen aus, die wir auch in der Gegenwart wahrnehmen. Disruptive Veränderungen sind immer unübersichtlich Führung und Leitung gleicht in diesen Zeiten einem Vorantasten im dichten Nebel. Man weiß, dass die gute alte Zeit vergangen ist und nicht wieder zurückkommt, aber man weiß nicht, was kommt. Die vielen Worte, die mit der Vorsilbe „post“ (lat. nach) beginnen, machen das sehr deutlich. Man weiß, dass man am Ende einer Zeit steht, aber man weiß noch nicht, was kommt. Die Entscheidungen in Firmenvorständen, Kirchen- und Missionsleitungen gleichen einer Kajaktour auf einem unbekannten Wildwasserfluss. Nichts ist mehr gewiss, keiner kann einem sagen, wo das Ziel ist und wie lange es bis dahin geht. Man sieht nur den nächsten Felsen und muss alles tun, um mit seinem Kajak um diesen Felsen herumzukommen, um sich dann auf den nächsten Felsen, den nächsten Wasserfall oder die nächste Stromschnelle zu konzentrieren, nicht sehend und nicht wissend, was danach kommt. Währenddessen träumen alle von der guten alten Zeit, wo die Dinge noch klar, geordnet, überschaubar und berechenbar waren. in disruptiven Veränderungen verlieren Gesetzmäßigkeiten der Vergangenheit ihre Gültigkeit Eine in zu vielen Dimensionen nicht kalkulierbare Ungewissheit dominiert die künftigen Veränderungen. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler sprechen von der sog. VUCA-Welt. VUCA ist ein Akronym, das sich auf „volatility“ (Volatilität: Schwankungsanfälligkeit), „uncertainty“ (Unsicherheit), „complexity“ (Komplexität) und „ambiguity“ (Mehrdeutigkeit) bezieht. Damit werden die Merkmale disruptiver Veränderungsprozesse beschrieben. Thomas Straubhaar, Ökonom und Wirtschaftsforscher an der Uni Hamburg, hat es jüngst in einem Welt-Kommentar beschrieben: „Es gibt keine … für die Ewigkeit geplanten großen Würfe oder weiten Sprünge mehr, sondern nur noch eine brauchbare, rasch umsetzbare und flexibel veränderbare Politik der kleinen Schritte.“ Die großen 10-Jahres-Pläne wandern in diesen Zeiten im Jahresrhythmus zum Altpapier. Wir müssen mit Zwischenlösungen leben. In Zeiten disruptiver Veränderungen werden die alten Lehrbücher unbrauchbar, weil sich die Regeln verändern und niemand weiß, wie die Dinge in Zukunft funktionieren. Wir werden nur dann teil von gottes Zukunft sein, wenn wir bereit sind, uns und unsere arbeit zu verändern – möglicherweise sogar radikal zu verändern. Foto: iStockphoto.coM/WhiteMay
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