MISSION weltweit – Ausgaben 2018

6 Darum GeHt’s mittlerer osten Ich wollte meine Freundin an meinem Leben in einer patriarchalen Gesellschaft teilhaben lassen, in der ich als Frau und als Unverheiratete oft auf der untersten Stufe der Hierarchie stehe. Nach ihrer Reaktion hätte ich es lieber nicht erzählt. Ich denke auch oft: „Ich könnte das nicht!“ Zum Beispiel wie Leila leben. Als ihr Vater starb, musste sie ihr Studium abbrechen und in das kleine Dorf im Norden des Landes, in dem ich arbeitete, zurückgehen. Dort kümmerte sie sich um ihre drei geistig behinderten Geschwister. Diese waren erwachsen, ihr an körperlicher Stärke überlegen und von Leilas Mutter vollkommen verwöhnt. Wenn sie sich ärgerten, warfen sie schon mal das ganze Geschirr aus dem Küchenfenster. Tag und Nacht war Leila nur noch für ihre Geschwister da, während die Mutter Geld verdiente. Ich bewunderte Leila sehr. Wie konnte sie so ein Leben ertragen? Vor allem imponierte mir, dass sie bei all dem so liebevoll mit ihren Geschwistern umging und das Beste für sie tun wollte. Ausweg Heirat? Einige Jahre später verlobte sich Leila mit ihrem Cousin. Sie war lange hin- und hergerissen. Er war zwar wirtschaftlich gut gestellt und bereit, auch für ihre Geschwister und die Mutter zu sorgen, aber sie war sich nicht sicher, ob er sie liebte oder nur ausnutzten wollte. Die weitere Verwandtschaft übte großen Druck auf Leila aus, denn der Cousin erschien ihnen als der einzige Ausweg. Für sie war Leila als Frau zu schwach, um allein zu überleben, vor allem, weil die Kräfte ihrer Mutter langsam abnahmen. Leila gab schließlich nach, und sie verliebte sich auch in diesen Mann. Aber sie war unglücklich und weinte viel, weil er sie oft verletzte. Als er schließlich sagte, er würde neben ihr noch eine zweite Frau heiraten, mit der er in der Stadt zusammenleben würde, brach sie die Verlobung ab. Trotzdem wurde Leila weiter von Zweifeln geplagt, ob sie das Richtige getan hatte, und sie fragte sich, ob sie noch eines Tages durchdrehen würde. Leila ist für mich eine starke Frau. Wegen der Liebe zu ihrer Familie erträgt sie Situationen, die ich sicherlich als „zu schwer“ ansehen würde. Aber Leila ist auch eine schwache Frau, die dem Druck der Familie und dem eigenen Bedürfnis, geliebt zu werden, nachgab – und dann sehr unter dem Zerbrechen ihrer Hoffnung litt. Über die Jahre habe ich sie tiefer kennengelernt und mehr davon verstanden, dass ihre Situation, ihre Persönlichkeit und ihre Entscheidungen sehr viel komplexer sind, als ich es anfangs wahrgenommen hatte. das Etikett und ein Missverständnis Über das Thema „Starke Frauen“ zu schreiben finde ich nicht leicht, weil ich selbst oft mit diesem Etikett versehen werde, mit dem ich mich gar nicht so wohlfühle. Natürlich: Wie jede Frau und auch jeder Mann habe ich Stärken. Ich freue mich, wenn sie gesehen werden und zum Einsatz kommen. Aber oft empfinde ich, dass, wie bei meiner deutschen Freundin, der Gedanke mitschwingt, dass eine starke Frau darum stark ist, weil sie bestimmte Probleme nicht so schwer nimmt: weil sie weniger emotional ist, weniger sensibel und weniger verletzlich als „normale Frauen“. Sie hat eben ein dickes Fell. Autsch! Ich schreibe aus der Perspektive einer unverheirateten Frau in der Mission, auch wenn bestimmt verheiratete Frauen und Männer manchmal ähnlich fühlen. Andere empfinden es anders. Ich male hier ein unausgeglichenes Bild, denn ich erfahre auch viel Verständnis und Fürsorge. Aber es gibt eben auch das Missverständnis, als ob von der Last, die jemand tragen muss, auf die Sensibilität geschlossen werden könnte. ich könnte das nicht! „Du musst ein sehr dickes Fell haben. ich könnte das nicht“, sagte meine Freundin. ich saß in Deutschland mit ihr in einem Café und hatte gerade von meinem letzten besuch bei leila erzählt. und von leilas mutter, die meine gut gemeinten kommentare zu leilas situation zornig vom tisch gewischt hatte: „Was weißt du schon vom leben! Du bist nicht mal verheiratet, hast keine kinder, du bist nichts und verstehst überhaupt nichts!“ Die autorin ist theologin und islamwissenschaftlerin und arbeitet mit der liebenzeller mission in sensiblen regionen dieser Welt.

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