MISSION weltweit – Ausgaben 2016

25 das empfehlen wir weiterdenken >> gastbeitrag von klaus w. mülle festgeschrieben. Auch die Sprache veränderte sich: Mehr Begriffe für Schuld entstanden, Schambegriffe erschienen altmodisch und verschwanden aus dem offiziellen Gebrauch. So haben wir heute einen Rechtsstaat, eine Rechtsprechung und Rechtsanwälte. Ehre und vor allem Scham kommen in diesem Zusammenhang nicht mehr vor; nur noch im untergeordneten Sprachgebrauch. Die neue Einstellung: „Gut ist, was für mich das Beste ist“ Der Grund für die bleibende Aktualität der Scham für das menschliche Zusammenleben kann in der Tiefenstruktur der menschlichen Seele gefunden werden. Das Sozialverhalten (wie verhalte ich mich, damit ich den Alltag in meinem Umfeld am besten gestalten kann?) an der Oberfläche verändert sich schnell und leicht. Das zeigt sich deutlich in der Postmoderne, in der gewachsene Strukturen des menschlichen Zusammenlebens innerhalb ein/zwei Generationen aufgelöst und ersetzt wurden durch die Einstellung: „Gut ist, was für mich das Beste ist“. Hier bildet sich, von den Medien gesteuert, eine neue Kommunikation aus. DieCharakteristikdes Menschen hält sich hartnäckig lange über vie- le Generationen hinweg, weil sie auch so lange für ihre Formierung braucht und sich für das Überleben einer menschlichen Gruppe in einem bestimmten geografischen Umfeld bewähren muss. Hier liegen Eigenschaften, die den Kulturen dann von außen zuge- schrieben werden: der deutsche Fleiß und seine Gründlichkeit, die amerikanische Gelassenheit, die englische vornehme Zurückhaltung mit ihrem Traditionalismus, die Schweizer Genauigkeit. Im Tiefenbereich der Seele sind die Erbanlagen und die frühkindliche Erziehunggelagert, die bei vielen Angehörigen einer Volksgruppe erkennbar sind. Hier schlagen sich jahrzehnte- und jahrhundertelange Prägungen nieder, die zur Volksphilosophie, von der vorherrschenden Religion gestützt und sprichwörtlich wurden: die Unbestechlichkeit der Preußen und die Vorsorge der Schwaben. Immer und überall gibt es die bekannten Ausnahmen dazu. Scham und Schuld, Ehre und Recht Das Empfinden von Scham und Schuld sind nicht nur angelernte Gefühle. Sie sind empirische Kulturwerte, die als grundlegende Prinzipien Klein- und Schulkindern auf allen Ebenen ihrer Enkulturierung und Bildung und vor allem für die Funktion ihres Gewissens vermittelt werden. Sie sind bei jedem Menschen auf der ganzen Welt, in allen Kulturen und Religionen vorhanden – nur in verschiedener Wahrnehmung. Es gibt Hinweise, dass selbst diese Ausprägungen durch Gene weitergereicht werden. Deshalb ist und bleibt die Beschäftigung mit dem Phänomen „Scham“ neben all den anderen Kategorien wichtig, vor allem für Missionare. Denn auf dieser Ebene ist auch der Glaube angelegt, wenn er sich nicht nur in frommem Gebahren äußert oder in Charakterformen erschöpft. Religion und Glaube sind in der Grundstruktur der Seele verankert. Hier liegen auch die Grundelemente des Gewissens: Scham und Schuld mit ihren Gegenpolen Ehre und Recht. Einen anderen Menschen nicht zu beschämen ist oberstes Verhaltensgebot in schamorientierten Gesellschaften. Das kann sich so weit auswirken, dass ein Copilot seinen Vorgesetzten im Cockpit nicht auf Gefahren aufmerksam macht und das Flugzeug abstürzt. In Schwaben herrschen Regeln wie „Das tut man doch nicht! – Ich wage das nicht zu sagen! – Was sagen denn da die Leute!“ Sie hindern, die Wahrheit zu sagen oder Jesus in der Öffentlichkeit zu bezeugen. Man will sich und vor allem andere nicht bloßstellen, nicht beschämen. Man fühlt sich gefangen von unsichtbaren und unausgesprochenen „Anstandsregeln“ – vielleicht mehr, als man sich einzugestehen bereit ist. Ehre und Recht zusammen ergeben die Würde des Menschen, und darin liegt ein wichtiges Element unserer Gott-Ebenbildlichkeit, unseres Gewissens. Reagiert das Gewissen nicht mehr auf Ehre und Recht, (ver)sinkt der Mensch in Scham und Schuld – jedoch nur nach den jeweils geltenden Gesetzen seiner Religion und Kultur. Scham ist ein psychologischer, ein seelischer Schmerz, ebenso Schuld. Beide zusammen bewirken soziale Angst, die jeder Mensch als eine Bedrohung empfindet. Scham braucht den Zuspruch von Ehre durch Anerkennung der Position und durch nahtlose Eingliederung in das gesellschaftliche Umfeld. Dafür hat wiederum jede Religion und jede Kultur eigene Mechanismen. Da sie unbewusst gelernt wurden, können die wenigsten Menschen diese erklären oder definieren. Wenn Missionare die Welt nicht mehr verstehen Wenn einem schamorientierten Sünder die Gerechtigkeit vor Gott deutlich werden soll, indem er sein Verhalten wieder „in Ordnung“ bringt und sich „entschuldigt“ oder das gestohlene mission weltweit 5–6/2016 Foto: medienREHvier.de/helga Brunsmann

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