24 weiterdenken >> gastbeitrag von klaus w. müller Seit es Menschen gibt, teilen sich diese ein in „ich“ und „du“, „wir“ und „ihr“ oder „sie“. Die Kriterien für die Unterschiedlichkeit waren mehr oder weniger markant: Abgrenzung, Schutz, Feststellung der Verschiedenheit, aber auch Versuche zum Verständnis. Hautfarbe spielte lange eine wesentliche Rolle, dann waren Zugehörigkeit zu einer geografischen Gruppe oder „Rasse“ wichtig. Die Kriterien wurden klarer definiert, als sich durch die Kolonialwissenschaft und Mission die Ethnologie (Kulturanthropologie) als wissenschaftliche Disziplin neben der Sprachwissenschaft an den Universitäten entwickelte. Missionare gehörten mit zu den Ersten, die wesentliche Beiträge zu beiden Bereichen lieferten. Jetzt merkte man, dass die jeweiligen Sprachen selbst Hinweise zur Unterscheidung der Menschen und Kulturen anboten. In den vergangenen Jahrzehnten wurden Gesellschaften nach ihren Verhaltensstrukturen und Werten eingeteilt: kollektiv oder individuell, hierarchisch oder egalitär1 und, vor allem in der Wirtschaftswissenschaft und Kommunikation, in Macht oder Distanz, Maskulinität oder Feminität, Sicherheitsbedürfnis oder Vermeidung von Unsicherheit sowie der Zeitorientierung2. Neue Erkenntnisse sind ernst zu nehmen und entsprechende Definitionen berechtigt. Sie erobern kurzfristig die Literatur – und werden ebenso schnell abgelöst, wenn weitere Erkenntnisse auftreten oder andere Bezüge wichtig sind. Vor allem junge Missionsleute prüfen die neueste amerikanische Literatur nicht hinreichend auf ihre Einbettung in die Wissenschaftsentwicklung und ihre internationale Brauchbarkeit. Viele tun so, als ob man „Scham“ separat für sich allein definieren, erklären oder damit umgehen könnte. Auch die Psychologie hat das früher versucht. Es ist unzureichend, irreführend und endet in Sackgassen – es bleiben zu viele Fragen offen. Scham will, wie das Leben auf dieser Welt, in einem Kontext von Kultur und Religion in Parallelen und Gegensätzen betrachtet sein, damit Ergebnisse sinnvoll, maßgebend und weiterführend sein können. Zur Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen Seit Jahrzehnten hält sich die Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen nach Ruth Benedict (1934/1946), was sich vor allem für die Geisteswissenschaften als brauchbar erwies und letztlich nicht ersetzt wurde. Der Begriff „Scham“ wurde etwa seit den 1990er-Jahren in anderen Disziplinen wie Psychologie und Psychiatrie entdeckt und in ihrer Literatur besprochen, allerdings meist ohne Bezug zu „Gewissen“ oder „Schuld“. Im politischen, sozialen, pädagogischen sowie christlichen Bereich gewinnt das Thema, verspätet zwar, verstärktes Interesse3. Das geht einher mit einer zunehmenden Schamorientierung in der Generation der Postmoderne4, wo die Medien als Autorität für Scham und Gewissen Religion und Staat abgelöst und das Empfinden für Schuld verdrängt haben. Letzteres hat – erst langsam durch die evangelische Ethik, dann rasant durch die Aufklärung – die europäische Philosophie erobert und den Boden für ein neues verantwortliches Denken bereitet. Die neuen europäischen demokratischen Staaten haben diese Schuld-GerechtigkeitOrientierung in ihrer Verfassung und in ihrem Strafgesetzbuch Scham – weit mehr als ein Gefühl Scham will, wie das Leben auf dieser Welt, in einem Kontext von Kultur und Religion in Parallelen und Gegensätzen betrachtet sein, damit Ergebnisse sinnvoll, maßgebend und weiterführend sein können. Gast- beitrag von Klaus W. Müller 3 Alexandra Pontzen/Heinz-Peter Preusser 2008, Jennifer Jacquet 2015, Neil Postman 1995, Michael Winterhoff ab 2008, John MacArthur 2002, Claudius Zumbrunn 2016 4 Ron Kubsch 2007 1 Lingenfelter, seit 1998 2 Rotlauf 1999, Hofstede seit 1991
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