25 Fotos: s. EsthER hAhN, JosIA hAUPt SchWESTERN koNkRET Mittwoch. Plauen, DDR. Rund 40 Lehrer sind an jenem Tag anno 1953 in der Schule versammelt, als das fragwürdige Dokument die Runde macht. Lehrer für Lehrer unterschreibt, das Dokument kommt näher. Die junge Deutsch- und Musiklehrerin Esther Hahn ist seit ihrer Kindheit im sächsischen Gemeinschaftsverband aktiv, der EC-Jugendbund wird vom Vater geleitet. Und nun dieses Dokument: Der Beschluss, dass alle christlichen Jugendarbeiten in der DDR verboten werden. Der Nachbar im Kollegium hat unterschrieben. Esther ist an der Reihe, alle Augen sind auf sie gerichtet. Sie ist gefasst, als sie zwei Sätze sagt: „Ihr kennt meine Einstellung. Ich kann das nicht unterschreiben.“ Als sie die Tür des Lehrerzimmers verlässt, bricht sie fast zusammen und rennt nach Hause. Donnerstag. Esther ist daheim, als ihre jüngere Schwester in die Wohnung gerannt kommt: „Ich darf mein Abitur nicht machen!“ Es verschlägt ihr die Sprache. Der Grund ist allen klar. Der Beschluss steht: Wir werden fliehen! Freitag. Alles geht schnell. Der Vater überlegt sich eine Fluchtroute, Sachen werden gepackt. Samstag. Die damals vierköpfige Familie trennt sich, um unauffällig nach Dresden zu gelangen. Dort treffen sie sich wieder und treten die gemeinsame Fahrt nach Berlin an. Sonntag. Der Zug rattert. Es ist keine fröhliche Fahrt: Die Lage spitzt sich zu. Im hinteren Zugteil kontrollieren Russen die Abteile auf Flüchtlinge! Vorne steigt die Volkspolizei ein! Die Familie sitzt in einer fahrenden Falle, verraten von ihrem Gepäck. Die Russen unterhalten sich munter. Und dann geschieht das Wunder: Die Männer gehen zügig, ja flüchtig am Abteil von Familie Hahn vorbei! Es war, als wäre dort kein Mensch gewesen. „Passt alles“, hört man die Russen vorne sagen. Die Flucht nach Westberlin gelingt! Vor Esther steht Schwester. Nach ihrer Geburt hatten die gläubigen Eltern Gott versprochen, dieses Kind in die Auslandsmission gehen zu lassen. Tatsächlich: Nach der Flucht bewirbt sich Esther bei der Liebenzeller Mission. Der Missionsberg wird ihr neuer Zufluchtsort, zumindest vorübergehend. Sie ist in der Gemeinschaftsarbeit im Karlsruher Bezirk tätig und lernt Krankenpflegerin, bevor sie 1959 das erste Mal ausreist. Über Amerika, wo sie nach einem Jahr die Staatsbürgerschaft erlangt, die sie dann auf die Chuuk-Inseln bringt. Siebzehn Jahre arbeitet sie dort als Missionslehrerin in einer Mädchenschule und hat abenteuerliche Erlebnisse, bis sie schließlich als Englisch-Lehrerin und stellvertretende Leiterin an die Bibelschule nach Liebenzell gerufen wird. Heute. 62 Jahre später berichtet mir eine hellwache 91-jährige Schwester von ihrer Flucht, als wäre sie gestern gewesen. Sie nickt nachdenklich: „Deshalb kann ich die Flüchtlinge verstehen!“ Man glaubt ihr jedes Wort. Sie erlebte ein Schicksaal, welches heute tausende Flüchtlinge teilen. Was sie ihnen wünscht? „Dass sie hineinfinden in die andere Kultur. In erster Linie geht das über die Sprache“, meint sie. Auf der anderen Seite brauche es Entgegenkommen von unserer Seite. Das hat sie damals erlebt. Man müsse den Menschen vorleben, was ein Leben mit Christus heißt. „Damit sie etwas abspüren von unserem Glauben, von unserer eigenen Verbindung mit Jesus.“ Josia Haupt, Student an der internationalen hochschule Liebenzell, freier mitarbeiter beim Donaukurier Die geflohene Schwest(h)er Linkes Bild: Schwester Esther mit Schülerinnen der Philadelphia-Schule auf Tol, Chuuk-Inseln Rechtes Bild: Anlegestelle auf Tol, Chuuk-Inseln miSSioN weltweit 3–4/2016
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