23 In 1. Petrus 2,22 wird uns Jesus vor Augen gestellt als der, „der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand”. Und wir dürfen Jesus bitten, dass er in unserem Herzen Raum gewinnt, dass er uns – in aller Bruchstückhaftigkeit, die dem neuen Leben in Christus unter den Bedingungen dieses irdischen Lebens anhaftet – zu aufrichtigen Menschen macht, sodass unser Ja ein Ja und unser Nein ein Nein ist. 8. Vom großen Schein zu den kleinen Münzen des Alltags Nun sind die bisherigen Ausführungen wie ein großer Schein, der erst umgewechselt werden muss in die kleinen Münzen des Alltags. Da tauchen dann auf einmal sehr konkrete Fragen auf: Kann man es sich leisten, immer die Wahrheit zu sagen? Ist der Ehrliche nicht der Dumme? Kann man es sich leisten, offen zu seinem Vorgesetzten zu sein? Was ist, wenn der Chef oder die Chefin die Annahme eines termingebundenen Auftrags verlangt, obwohl von vornherein klar ist, dass die gesetzte Frist nicht eingehalten werden kann? Wie ist das mit den sogenannten „weißen Lügen“, den Höflichkeitslügen? Brauchen wir diese Lügen nicht als „Schmiermittel“ der Gesellschaft? Wie ist das, wenn ich ein Arbeitszeugnis ausstellen muss? Und gibt es nicht Situationen, in denen ich geradezu gezwungen bin zu lügen, wenn ich meinem Nächsten nicht schaden will, zum Beispiel, wenn ich unter Schweigepflicht stehe? Kennt nicht sogar die Bibel Beispiele von Notlügen zum Nutzen anderer wie die Lüge der hebräischen Hebammen in 2. Mose 1,15–21 oder die Lüge der Hure Rahab in Josua 2,1–6? 9. Der Streit um die Notlüge Muss man stets die Wahrheit sagen, auch dann, wenn dadurch andere Menschen zu Schaden kommen können? In der Geschichte der Christenheit wurde die Frage der Notlüge zum Nutzen anderer durchaus kontrovers diskutiert. Während der Kirchenvater Augustin (354–430) die Notlüge kategorisch ablehnte (auf keinen Fall dürfe ein Christ sein Seelenheil durch eine Lüge gefährden, auch nicht um das Leben anderer zu retten), unterschied Martin Luther in einer Predigt über das Beispiel der hebräischen Hebammen zwischen der egoistisch motivierten Lüge, die dem anderen Schaden zufügt, und der „freundlichen“ Lüge, die dem andern nützt. Während der Tübinger Theologe Adolf Schlatter (1852–1938) die Notlüge mit der Notwehr verglich („Die Verpflichtung zur Notwehr schließt die zur sogenannten Notlüge ein“6), war Hermann Bezzel (1861–1917), ehemaliger Bischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Bayern, überzeugt: „Gott führt dich nicht so in Versuchung, dass du lügen musst, um bestehen zu können.“7 Weitere Beispiele ließen sich nennen. Dazu abschließend einige Thesen: V Alles, was wir sagen, sollte der Wahrheit entsprechen; wir sind jedoch nicht verpflichtet, alles zu sagen, was wir wissen. Hier gilt es zu differenzieren zwischen Aufrichtigkeit und Vertrauensseligkeit. Aufrichtigkeit bedeutet nicht, sein Herz auf der Zunge zu tragen. Auch Jesus konnte in bestimmten Situationen zurückhaltend sein (vgl. Johannes 2,23f). V Notlüge bleibt Lüge. Die Vorsilbe „Not-“ sagt lediglich etwas aus über die Umstände, unter denen gelogen wird, und über die Absichten, die damit verbunden sind. Die Vorsilbe kann jedoch das Faktum der Unwahrheit nicht aufheben. Auch ein Notausgang bleibt ein Ausgang, eine Notlandung eine Landung, eine Notoperation eine Operation. V Es ist richtig, dass die Bibel mehrere Fälle von Lügen zur Lebensrettung schildert: Neben den bereits erwähnten Lügen der hebräischen Hebammen und der Hure Rahab sind die Lüge Jonatans zum Schutz Davids vor Saul und die Lüge der Frau aus Bahurim zum Schutz der Anhänger Davids vor Absalom zu nennen (1. Samuel 20,5–7.24–29; 2. Samuel 17,17–20). Doch bleibt die Schilderung dieser Fälle unkommentiert. Dass die hebräischen Hebammen für ihr Verhalten von Gott belohnt wurden, bedeutet nicht eine Rechtfertigung ihrer Lüge, sondern der Segen Gottes galt ihrer Gottesfurcht (vgl. 2. Mose 1,21). V In Gott sind Wahrheit und Liebe eins. Der Konflikt zwischen Wahrheit und Liebe ist „das Zeichen einer Wunde am Leibe dieser Welt“ (Helmut Thielicke, 1908 –1986). 8 Er ist der Tatsache geschuldet, dass wir in einer Welt leben, die von der Sünde gezeichnet ist und in der es immer wieder Situationen gibt, in denen der ursprüngliche Wille Gottes nicht oder nur in gebrochener Form verwirklicht werden kann. V Das Vorbild Jesu, „in dessen Mund sich kein Betrug fand“ (1. Petrus 2,22), ermutigt uns, in Konfliktfällen nach Lösungen zu suchen, die die Einheit von Wahrheit und Liebe wahren (vgl. Epheser 4,15: „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe“). V Es mag Grenzfälle geben, in denen der Konflikt unlösbar erscheint und die Lüge als das „kleinere Übel“ empfunden wird. Dietrich Bonhoeffer hat vor dem Hintergrund des Widerstands gegen die nationalsozialistische Herrschaft und im Blick auf Verhöre, in denen die Preisgabe von Informationen die Verhaftung oder gar den Tod von Menschen bedeuten konnte, von der „Bereitschaft zur Schuldübernahme“ aus Verantwortung gesprochen, 9 freilich ohne damit die Lüge gutzuheißen. Im Gegenteil, gerade der Begriff der Schuldübernahme erinnert daran, dass Lüge auch in solchen Grenzfällen Schuld darstellt und der Vergebung bedarf. Bonhoeffer ging es nicht um die Rechtfertigung der Sünde (was er als „billige Gnade“ kritisierte), sondern um die Rechtfertigung des Sünders, der in dem Bemühen um verantwortliches Handeln schuldig geworden ist. l WEITErDENKEN >> SonDerbeitrAG von WilfrieD Sturm Das Vorbild Jesu … ermutigt uns, in konfliktfällen nach lösungen zu suchen, die die einheit von Wahrheit und liebe wahren. Prof. Dr. Wilfried Sturm ist verheiratet mit judith, sie haben eine tochter und drei Söhne. Wilfried Sturm ist Dozent für Systematische theologie in pastoraler praxis an der internationalen hochschule liebenzell. er hat in krelingen, tübingen und erlangen evangelische theologie studiert und 2013 an der theologischen fakultät der universität leipzig promoviert. nach seinem Studium war er vier jahre als vikar und pfarrvikar im Dienst der evangelischen landeskirche in Württemberg tätig, bevor er 1988 an das damalige theologische Seminar der liebenzeller mission berufen wurde. entspannen kann er sich beim lesen, klavierspielen und Wandern in den bergen. Foto: lm-arCHiV miSSion weltweit 9–10/2016 6 A. Schlatter, Die christliche Ethik (51986), 287, Anm. 1. 7 H. Bezzel, Die Zehn Gebote (1974), 150. 8 H. Thielicke, Theologische Ethik II/1 (21959), Nr. 464. 9 Vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, DBW 6 (1992), 275.
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