22 der Verlässlichkeit und der Treue gebraucht. Die ursprüngliche Bedeutung ist jedoch das Nicht-Verheimlichte. Alätheia meint, dass Dinge nicht verschleiert werden, sondern dass der wahre Sachverhalt ans Licht gebracht wird. Alätheia steht daher für die gültige Wirklichkeit im Gegensatz zu aller Scheinwirklichkeit. In Johannes 14,6 sagt Jesus: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Inwiefern ist Jesus die Wahrheit? Er ist die Wahrheit, weil uns in ihm der wirkliche Gott begegnet. Hier zerreißen die Schleier der menschlichen Gottesvorstellungen und -bilder. In Jesus zeigt sich der wahre Gott, hier zeigt sich Gott, wie er ist, hier dürfen wir einen Blick in sein Herz tun. In Hebräer 1,3 wird Jesus als das Ebenbild des Wesens Gottes bezeichnet. Im Griechischen steht für „Ebenbild“ das Wort charaktär. Ursprünglich meinte dieses Wort den Abdruck eines Siegels oder die Prägung einer Münze. Nun trugen die Münzen in der Antike oft die typischen Gesichtszüge der damaligen Herrscher. Vor diesem Hintergrund konnte das Wort charaktär auch die typischen Wesenszüge eines Menschen bezeichnen, was der heutigen Bedeutung des Wortes „Charakter“ sehr nahekommt. Insofern könnte man zugespitzt formulieren: In Jesus zeigt sich der Charakter Gottes. Jesus selbst drückt es in Johannes 14,9 so aus: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ Was bewegt Gott dazu, dass er uns einen Blick tun lässt in sein Innerstes? Es ist seine Liebe. Wahrheit und Liebe sind bei Gott keine Gegensätze. Im Gegenteil, wo die Liebe herrscht, da herrscht Offenheit. In Johannes 5,20 sagt Jesus: „Der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er tut.“ Weil der Vater den Sohn liebt, gibt er ihm vollen Einblick in sein Handeln. Vollkommene Liebe bedeutet vollkommene Offenheit. Insofern steht die Wahrheit im Dienst der Liebe. Das lässt sich zwar nicht eins zu eins auf das zwischenmenschliche Miteinander übertragen. Solange die menschliche Liebe unvollkommen ist, wird auch die Offenheit gegenüber dem andern bruchstückhaft bleiben. Und doch ist damit ein Horizont gegeben, an dem wir uns orientieren können. Paulus schreibt daher in Epheser 4,25: „Legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind“, das heißt, weil wir miteinander durch die Liebe verbunden sind. 6. Was ist Lüge? Lüge ist das Gegenteil von ämät, von Verlässlichkeit. Wer lügt, zerstört Vertrauen. Bekannt ist das Sprichwort: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er selbst die Wahrheit spricht.“ Der Schweizer Theologe Emil Brunner (1889 –1966) hat es so ausgedrückt: „Lüge macht den Boden, auf dem allein Gemeinschaft stehen kann, unsicher. Lüge ist geistige Dorfbrunnenvergiftung. Lüge in der Ethik ist das, was in der Wirtschaft das gefälschte Geld … Jede Wahrheitsentstellung ist eine Verderbnis der ‚Währung‘ der Sozietät.“5 Ebenso ist Lüge das Gegenteil von alätheia. Wer lügt, konstruiert eine Scheinwirklichkeit. Nun ist die Scheinwirklichkeit an sich noch nicht das Problem. Jeder Verfasser eines Romans konstruiert eine Scheinwirklichkeit. Zur Lüge wird die Scheinwirklichkeit, wenn sie mit dem Anspruch auftritt, gültige Wirklichkeit zu sein. Das ist das Teuflische an der Lüge. In Johannes 8,44 bezeichnet Jesus den Satan als „Vater der Lüge“. Inwiefern ist der Satan als Vater der Lüge zu betrachten? Der Teufel streitet gegen die Wirklichkeit Gottes. Er kann jedoch diese Wirklichkeit nicht aufheben. Deshalb konstruiert er seine eigene Wirklichkeit, eine Scheinwirklichkeit, die er als die wahre Wirklichkeit ausgibt. In geradezu „klassischer“ Weise wird das Wesen der Lüge in 1. Johannes 1,5–6 beschrieben: „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.“ Da behaupten Menschen, dass sie mit Gott leben. Aber diese behauptete Wirklichkeit steht im Widerspruch zur tatsächlichen Wirklichkeit, die darin besteht, dass sich diese Menschen über den Willen Gottes hinwegsetzen. Lüge ist der Widerspruch zwischen Schein und Sein, zwischen behaupteter und tatsächlicher Wirklichkeit, zwischen Wort und Realität. Ein ähnlicher Widerspruch kennzeichnet die Falschprophetie im Alten Testament. Die falschen Propheten weissagen Lüge, indem sie ihre eigenen Gedanken als göttliche Offenbarung ausgeben (vgl. Jeremia 23,16.26). Damit kommt es zu einer Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Dabei beschränkt sich Lüge nicht nur auf die Falschaussage. Lüge ist auch die formal korrekte Aussage, sofern sie mit einer bewussten Täuschungsabsicht verbunden ist. Darüber hinaus gibt es mediale Inszenierungen einer Scheinwirklichkeit durch eine tendenziöse Berichterstattung bzw. durch die einseitige Auswahl und Vorenthaltung von Informationen bis hin zu einem Verschwimmen von Realität und Virtualität in der digitalen Welt. Eine Thematisierung dieser Problematik würde freilich den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 7. Leben als Gottes Ebenbild Bewusst wurde so weit ausgeholt, um deutlich zu machen, in welches Spannungsfeld wir hineingestellt sind. Die Frage ist: Wozu gebrauche ich meine Worte? Stelle ich sie in den Dienst der Wahrheit oder in den Dienst der Lüge? Stehe ich zu meinem Wort, oder lebe ich – salopp formuliert – nach dem Motto: „Was geht mich mein Geschwätz von gestern an?“ Meine ich das, was ich sage, oder baue ich durch meine Worte eine Fassade auf, hinter der ich meine wahren Absichten, mein wahres Ich verberge? Gott hat den Menschen als sein Ebenbild geschaffen. Das heißt, er hat uns dazu bestimmt, dass wir sein Wesen widerspiegeln – seine Verlässlichkeit, seine Treue, seine Wahrhaftigkeit. Er möchte, dass wir Menschen sind, auf deren Wort man sich verlassen kann. Er möchte, dass wir einander ohne Maske begegnen, so wie er uns in seinem Sohn Jesus Christus auch ohne Maske begegnet. Kein Mensch kann das in eigener Kraft. Zu tief sind wir von Natur aus verstrickt in das Gespinst von Unaufrichtigkeit und Lüge. Aber nun ist Jesus in diese Welt gekommen. Er ist das vollkommene Ebenbild Gottes. Er ist die Wahrheit in Person. weiterdenken >> sonderbeitrag von wilfried sturm Zur Lüge wird die Scheinwirklichkeit, wenn sie mit dem Anspruch auftritt, gültige Wirklichkeit zu sein. Das ist das Teuflische an der Lüge. 5 E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen (41939), 308f.
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