MISSION weltweit – Ausgaben 2021

8 darum geht’s südasien „Schade“, denke ich. So gern hätte ich sie unterstützt. Sie ist wiederholt krank, ihr Mann muss Überstunden machen, und im Kindergarten sind gerade Ferien. Andererseits kann ich sie allzu gut verstehen: Auch mich kostet es unglaublich viel Überwindung, das Telefon in die Hand zu nehmen, um das freundliche Ehepaar aus der Gemeinde anzurufen. Sie haben mehrfach angeboten, uns an stressigen Tagen das Mittagessen vorbeizubringen. Ich beginne zu ahnen, dass ich meine Gemeindegeschwister vielleicht einer Freude beraube, weil ich ihr ehrliches Angebot nie annehme. „Manchmal lasse ich mir auch helfen!“, halte ich innerlich dagegen. Hm, zumindest von meiner Familie. Oder wenn ich weiß, dass ich dem Geber auch bald unter die Arme greifen kann. Doch einfach so, ohne Gegenleistung? Leben in zwei Welten In unserem Heimataufenthalt fällt es mir dieses Mal besonders auf: Selbstständig zu sein heißt hierzulande, „frei“ zu sein. Und das hat in unserer individualistisch geprägten Kultur einen hohen Stellenwert. Sozusagen von Anfang an. Als Mama von zwei Kleinkindern ernte ich umso mehr Bewunderung, je früher unsere Mädchen (zwei und vier Jahre alt) Schritte in die Unabhängigkeit machen. Da fallen Sätze wie: „Sie bleibt schon ohne Tränen allein in der Kinderbetreuung? Super!“ oder „Wie toll sie schon selbst mit der Gabel essen kann!“ Doch manches von dem, was in unseren Breitengraden Bewunderung hervorruft, empfinden Eltern in anderen Teilen der Welt eher als beängstigend. Zum Beispiel bei uns in Südasien. Da vertraute mir meine Sprachlehrerin – vermutlich deshalb, weil wir damals noch kinderlos waren – an, welchen Eindruck ausländische Eltern auf sie erweckten: „Anfangs dachten wir Sprachlehrer, dass ihr Ausländer eure Kinder gar nicht liebt. Selbst wenn sie noch klein sind, müssen sie ganz allein mit dem Löffel essen. Ich habe meinen Sohn immer wieder gefüttert, bis er Anfang 20 war!“ Ich erschrak beinahe: „Wie bitte? Den Sohn so lange gefüttert? Das kann nicht gut sein“, dachte ich. Sie fuhr fort: „Das ist für mich ein Zeichen von Liebe. Ihr wollt eben, dass eure Kinder alles allein können. Wir möchten, dass unsere Kinder uns brauchen.“ Damals hatte ich noch wenig Einblick in den „Beziehungsbau“ unserer neuen Heimat. Inzwischen weiß ich, dass gerade dasFüttern als Ausdruck von Fürsorge hier nicht wegzudenken ist. Frisch Verliebte füttern sich; an Hochzeiten füttern die Gäste das Brautpaar; meine 20-jährige Freundin wird von ihrem Cousin „Melde dich bitte, wenn du Hilfe brauchst!“, schreibe ich in meiner SMS-Nachricht, fast schon sicher, dass meine Freundin alles tun wird, um meine Hilfe nicht zu beanspruchen. Und tatsächlich, nachmittags antwortet sie: „Meine Eltern konnten jetzt doch aushelfen und ich kann dein Angebot dankbar abschlagen.“ Von der Kunst, bedürftig zu sein

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