MISSION weltweit – Ausgaben 2018

19 weiTerDenken >> sonderBeitrag von esther kenntner FoTo: iSTocKPHoTo/FoToSToRM An jeder Arbeitsstelle sind mir solche Aussagen begegnet. Und ohne schon fertig zu sein mit Nachdenken, schreibe ich hier einige meiner Entdeckungen der vergangenen Jahre nieder. Scham ist ein sehr unangenehmes Gefühl. Erleben wir Scham, wollen wir uns vor dem Beobachtenden verbergen, nicht gesehen werden. Am liebsten würden wir im Boden versinken. Und weil dies nicht geht – meistens tut sich der Boden nicht in dem Moment auf, wenn wir es brauchen –, suchen wir Wege, uns oder Anteile von uns zu verbergen. Masken1 sind solch ein Schutz vor den Augen der anderen. Hinter der Maske versteckt ist zunächst einmal wieder alles in Ordnung. Es ist ein relativ schneller Weg, um das ungute Gefühl der Scham nicht mehr aushalten zu müssen. Masken als Notlösung, die wir brauchen, um uns nicht „nackt“ zu fühlen, um den vernichtenden Blicken der anderen nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Doch wie bei jeder Notlösung – wie bei jedem Medikament übrigens auch – gibt es dabei nicht nur hilfreiche und schützende Wirkungen, sondern meist auch einschränkende Nebenwirkungen – und vor allem ein „Zuviel des Guten“. Bei Masken sehe ich das Spannungsfeld von „sich zeigen“ und „sich verbergen“. Beides ist notwendig zum Überleben. Menschen sind Beziehungswesen. In manchem Umfeld ist es sicher sinnvoll, weniger von sich selbst zu zeigen und zum Beispiel eine professionelle Maske zu tragen. In einer guten Freundschaft ist es dran, mehr von sich selbst zu zeigen. Problematisch wird es erst, wenn wir einseitig werden: uns ganz „bloßstellen“ oder uns ganz „maskieren“. Ich habe eine weniger schöne Seite von mir gezeigt, war zu vorlaut – jemand anderes kritisiert dies. Scham steigt auf. Das Vertrauen in den anderen, in die Beziehung und in mich ist erschüttert. Dies fühlt sich schlecht an. Also versuche ich, das Gegenteil zu tun, mich besser zu verbergen, zum Beispiel mit einer Maske, die mich als „zurückhaltend“ zeigt. Immer noch sehen manche kritisch aus, wenn sie mir begegnen. Deshalb versuche ich, noch zurückhaltender zu wirken. Und schon verhärtet sich die Maske. Auf Dauer wird dies anstrengend. Es macht mich krank, immer zurückhaltend wirken zu wollen. Erst wenn jemand hinter meine Maske schaut, mich „trotzdem nicht verlässt“ und mich annimmt, kann sich mein Selbstbewusstsein wieder aufbauen. Ich brauche die Maske weniger, sie verschwindet wieder. Masken – entdeckungen aus der Säuglingsforschung „Gesehen werden“ wird als wichtigstes Grundbedürfnis von uns Menschen gesehen. Von Anfang an. Ist der Blickkontakt wohlwollend da, spiegeln sich wechselseitig die Emotionen, und ein Säugling erlebt: Ich bin in Ordnung. Der Blickkontakt2 nährt. Das Selbstbewusstsein baut sich auf. Fehlt dieser „Glanz in den Augen der Mutter“, wird es gefährlich für die Entwicklung des Kindes. Das Selbstbewusstsein wird irritiert. In einer gesunden MutterKindBeziehung bekommt das Kind sehr oft das lächelnde liebevolle Gesicht der Mutter oder anderer Personen zu sehen. Dies ist genauso lebensnotwendig wie andere Nahrung für die Entwicklung. Sehr besorgt sehen deshalb Kindertherapeuten seit einigen Jahren die Mütter mehr in ihr Handy vertieft als ihren Babys zugewandt. Nicht nur die Babys, auch die Mamas verpassen dabei viel. Es scheint eine faszinierende Wechselwirkung zu geben: Das Baby lächelt zurück oder „saugt sich fest“ am Blick der Mutter. Diese erlebt es als tiefe Bestätigung als Mutter und als Person, was unwillkürlich ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubert. Das wiederum nimmt das Baby als bestätigend und ermutigend auf: „Ich bin genial“ – und gibt dies wieder zurück an die Mutter … Erlebt ein Säugling einen sehr unfreundlichen oder auch nur einen starren gleichgültigen Blick, gerät das Selbstbewusstsein sofort ins Wanken3. Es braucht Trost von außen, den freundlichen Blick, um wieder „ins Lot“ zu kommen. Durch solche Irritationen lernen wir, dass wir nicht in einer idealen Welt sind und uns auch nicht immer ideal verhalten, aber dass letztlich alles wieder gut wird und wir angenommen werden, auch wenn wir nicht perfekt sind. Mit etwa sieben Monaten kommt es zu Reaktionen, die als Scham identifiziert werden können. Scham wird wie Stolz als Gefühl bezeichnet, das unser Selbstbewusstsein steuert. Es dient dazu, dass wir uns in die Gemeinschaft hinein entwickeln, dass wir passend sind zu unserer Familie. Gleichzeitig zu dieser Zugehörigkeit zur Gemeinschaft gibt es auchunser BestrebennachAutonomie, was uns ganz einzigartig, „eigenartig“ und unverkennbar macht. Kommt es in diesem Spannungsfeld von „Verbundenheit und Eigenständigkeit“4 zu schmerzhaften Erfahrungen und Verletzungen, können Masken als Schutz aufgebaut werden. Werden Kinder in diesem Spannungsfeld liebevoll angesehen, dann wachsen sie darin wie eine Pflanze in Sonne und Regen. Und nicht nur als Kinder: „Gesehen werden“ gilt auch für Erwachsene als Grundbedürfnis. Masken – interkulturelle Aspekte Zwei Jahre als Mitarbeiterin im Schülerheim der Liebenzeller Mission in Japan ließen mich manche kulturellen Unterschiede im Alltag spüren. Das Gesicht zu wahren scheint in Japan ein anderes Gewicht zu haben als bei uns. Auch kam ich mir – nicht nur wegen meiner Körperlänge – im Vergleich zu japanischen Frauen oft sehr trampelig vor. Alle wirkten zunächst einmal sehr höflich und freundlich. Auf Besuch bei mir im Schwarzwald sagte mir eine Japanerin sinngemäß: „Als ich das erste Mal in Düsseldorf aus dem Flugzeug stieg, kamen mir alle Leute sehr verbittert und kalt vor. Aber vielleicht ist dies dasselbe wie bei uns, eine schützende Maske auf der Straße. Bei uns ist es eine ewig lächelnde Maske, in Deutschland eine biestige. Aber beide geben kaum einen Einblick in unser Inneres. Nach ein paar Tagen fand ich aber viele Leute sehr nett und freundlich.“ Masken scheint es in jeder kulturellen Prägung zu geben. Nur eben in anderer Gestalt. Für diese Erkenntnis muss ich aber nicht in ferne Länder ziehen, auch innerhalb einer Gemeinde, sogar innerhalb einer Familie sind ganz unterschiedliche Masken zu beobachten: Da verbirgt sich die eine Tochter hinter der Maske des Clowns und die andere hinter ihrem „Pokerface“. in gesunden Beziehungen kann ich dann auch wagen, mich mit meinen „guten Seiten“ undmeinen „Problemzonen“ zu zeigen und die Erfahrung machen: Das haut den anderen nicht um – und mich auch nicht. 1 Person wird aus dem lateinischen Wort Persona hergeleitet. So wurde die Maske der Schauspieler genannt. 2 Durch die Erfahrung von blinden Kindern wird deutlich, dass dies nicht der Blickkontakt sein muss, sondern dass auch andere Sinne diese Entwicklung fördern können. Vermutlich haben auch Babys, die auf dem Rücken getragen werden, einen anderen Sinneskanal, um genährt zu werden. Trotzdem beziehe ich mich im Folgenden auf den Blickkontakt, da dabei der Bezug zu den Masken, die wir aufbauen, „offensichtlicher“ wird. 3 Karl-Heinz Brisch zeigt in seinen Vorträgen eindrückliche Video-Aufnahmen von Säuglingen, die verzweifelt weinen, wenn die Mutter nicht reagiert und nur gleichgültig vorbeischaut. Auf seiner Internetseite ist viel Wertvolles zum Thema zu finden: www.khbrisch.de 4 Erikson beschreibt „Autonomie versus Scham und Zweifel“ als notwendige Krise der Entwicklung. Ansonsten werden Autonomie und Zugehörigkeit oft als zwei Pole an Grundbedürfnissen beschrieben. „Verbundenheit und Eigenständigkeit“ benennt Thomas Härry dieses Spannungsfeld in seinem Buch: „Von der Kunst, sich selbst zu führen“.

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