20 sie größer als wir. Es wäre vermessen zu meinen, wir könnten oder müssten immer alles sofort verstehen. Calvin, der Reformator von Genf, rief deshalb im Umgang mit der Schrift zu einer „docta [sancta] ignorantia“ auf, zu einer „gelehrten [heiligen] Unwissenheit.“ Das ist nicht Dummheit, sondern Bescheidenheit. Wir sollten bescheidener und ehrfurchtsvoller sein. Mit dem Wort Gottes geht man nicht leichtfertig, sondern im Angesicht des lebendigen Gottes um. Vielleicht sollte man Jakobus 3,1 in Auseinandersetzungen hin und wieder in Erinnerung rufen, wenn Menschen sich großlippig verbal bekriegen – sei es mit fundamentalistischen oder liberalen Argumenten: „Meine Geschwister, es sollen nicht so viele von euch darauf aus sein, Lehrer der Gemeinde zu werden! Ihr wisst doch, dass wir ‚Lehrer‘ einmal besonders streng beurteilt werden.“ Gott wird uns einmal bei unserem Wort behaften. Sein Wort ist heilig. Was wir brauchen, ist eine Haltung, die sich der eigenen Unzulänglichkeit, Fehlerhaftigkeit und Sündhaftigkeit bewusst ist. Wir benötigen die Einsicht, dass wir ohne den Heiligen Geist mit unserer Vernunft in die Irre gehen. Wir tragen Verantwortung dafür, was wir den Menschen als Gottes Wort weitergeben. Wir werden Gott darauf einmal Antwort geben müssen (Matthäus 12,36; Römer 14,10). Wer die Bibel als Gottes Wort nimmt, der schaltet dabei ganz sicher nicht seinen Verstand aus. Gott hat uns zum Denken befähigt. Darum ist es absolut notwendig und legitim, sich zum Beispiel über die historische Zuverlässigkeit der Schrift Gedanken zu machen. Es ist wichtig, sich mit der jeweiligen Sprache zu beschäftigen, um zu verstehen, was damals gesagt werden wollte und damit heute gesagt werden soll. Es gilt, Symbole, Bilder und Verhaltensweisen von ihrem damaligen Kontext her richtig zu verstehen. Ein gründliches, wissenschaftlich verantwortetes Theologiestudium ist deshalb für Hauptamtliche kein „nice to have“ (schön zu haben), sondern Grundvoraussetzung für den Verkündigungsdienst in Kirche und Gemeinde. Wir trennen nicht zwischen Gott und Bibel Aber auch Theologie kann man sehr unterschiedlich studieren. Es kommt im Wesentlichen auf die weltanschaulichen Prädispositionen an (Grundannahmen, die als Referenzrahmen, als Denkvoraussetzung gelten). In diesem Zusammenhang wird denen, die die Bibel wörtlich nehmen, vorgeworfen, sie hätten einen „papierenen Papst“. Oder es kommt zu Aussagen wie: „Wir glauben an Gott, nicht an die Bibel.“ Ich kann verstehen, wogegen sich Wortkreationen dieser Art unter anderem aussprechen möchten – halte sie aber für irreführend. Ich kann zwischen Gott und der Bibel nicht trennen. Selbstverständlich ist die Bibel keine von Gott losgelöste Größe. Wir kennen Gott aber nicht anders als durch sein Wort. In der Bibel erfahren wir, wer Gott ist, in welcher Beziehung er zum Menschen steht, wie Menschen mit ihm leben, wie er auf ihren Glauben eingeht und dass er in Christus zu uns als letztes Wort gesprochen hat (Hebräer 1,1–2). In erster Linie gilt es in der Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes im Auge zu behalten, wozu es uns, jedem von uns, persönlich gegeben ist. Es gibt den Missbrauch des Wortes Gottes in unterschiedlichsten Formen. Mancher befriedigt damit sein Bedürfnis nachAnerkennung. Andere zementieren damit ihreMachtgelüste. Wieder andere befriedigen damit ihren Drang, Recht zu haben. Die Kirchengeschichte ist bis heute voll davon. Entscheidend ist, dass wir – jeder persönlich und wir als Gemeinschaft von Christen – vor dem Angesicht des lebendigen Gottes stehen und uns in Erinnerung rufen, wozu er uns sein Wort gegeben hat. Paulus schreibt dazu an Timotheus: „Denn alles, was in der Schrift steht, ist von Gottes Geist eingegeben, und dementsprechend groß ist auch der Nutzen der Schrift: Sie unterrichtet in der Wahrheit, deckt Schuld auf, bringt auf den richtigen Weg und erzieht zu einem Leben nach Gottes Willen. So ist also der, der Gott gehört und ihm dient, mit Hilfe der Schrift allen Anforderungen gewachsen; er ist durch sie dafür ausgerüstet, alles zu tun, was gut und richtig ist“ (2. Timotheus 3,16–17). Gottes Wort ist immer ein an uns persönlich gerichtetes Wort. Traditionen gehören zum Fundament Gleichzeitig gilt es, in Erinnerung zu rufen, dass wir eingebunden sind in eine Geschichte der Christenheit und dass wir heute die Bekenntnisse der alten Kirche in unseren Diskussionen und Überlegungen nicht einfach ignorieren sollten. Die Bekenntnisse der frühen Kirche sind einprägsame, konzentrierte Aussagen darüber, was christlicher Glaube ist und wie die Schriften des Alten und des Neuen Testamentes in ihren Kernaussagen zu interpretieren sind. Das Apostolikum ist erwachsen aus der Verkündigung der Apostel, aus den Büchern des Alten Testamentes und den entstehenden Schriften des Neuen Testamentes und der lehrhaften Weitergabe des Glaubens innerhalb der frühen Kirche. Traditionen sind, so gesehen, nicht nur lästiger, geschichtlicher Ballast, den es im Hinblick auf Entwicklung und Erneuerung abzuwerfen gilt, sondern Teil des Fundamentes, auf dem wir als Christen stehen und die uns helfen, Gottes Wort richtig zu verstehen. Die Bibel ist Gottes Wort an uns. Wer sie im Angesicht des lebendigen Gottes liest, der entdeckt, was Jesus in einer Stunde der Anfechtung aus dem Alten Testament zitierte: „Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“ (Matthäus 4,4). Wir leben von diesem Wort. Wir brauchen es mehr als materiellen Wohlstand, Erfolg und Anerkennung. „Dein Wort ward meine Speise, sooft ich's empfing, und dein Wort ist meines Herzens Freude und Trost; denn ich bin ja nach deinem Namen genannt, HERR, Gott Zebaoth“ (Jeremia 15,16). So betet der Prophet Jeremia in einer Stunde tiefster Not. Lassen Sie sich dieses Buffet nicht schlechtreden. Lesen Sie dieses Wort, halten Sie sich daran, vertrauen Sie ihm. Sie können sich darauf verlassen: „Des Herrn Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiss!“ (Psalm 33,4) ● WEITERDENkEN >> SonDERBEItRAg Von DEtlEf KRAuSE Pfarrer Detlef krause ist seit 2003 Direktor der liebenzeller mission. nach seiner theologischen Ausbildung und 13 Jahren mitarbeit in verschiedenen Aufgaben in papua-neuguinea leitete er die gesamte Auslandsarbeit der liebenzeller mission. Foto: lm-archiv Zum 500. Reformationsjubiläum bietet die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Bibel als kostenlose App an. Damit kann man die revidierte lutherbibel 2017 der Deutschen Bibelgesellschaft auf dem mobiltelefon lesen, auch ohne Internetverbindung. mehr Informationen: www.die-bibel.de Was wir brauchen, ist eine haltung, die sich der eigenen unzulänglichkeit, Fehlerhaftigkeit und sündhaftigkeit bewusst ist.
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