MISSION weltweit – Ausgaben 2018

21 Prof. Dr. Roland Deines (Jahrgang 1961) ist seit September 2017 Professor für Biblische Theologie und Antikes Judentum an der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL). Zuvor war er an den Universitäten Tübingen, Jena, Beer-Sheva und Nottingham tätig. Er ist seit 1985 verheiratet mit Renate und Vater eines zwanzigjährigen Sohnes. Foto: privat weise im Alltag nicht ausblenden könnten. Das, was dem Betroffenen sozusagen nur ab und an zu schaffen macht (obwohl es immer da ist), würde für den anderen zu einem festen Teil der Wahrnehmung des Gegenübers werden, was die meisten Beziehungen wohl nicht ertragen könnten. Eine dritte Variante könnte als Konfliktvermeidungstabus bezeichnet werden Das nimmt das Sprichwort auf, dass man auf einer Party oder einem Empfang über alles reden darf („small talk“ eben), aber nicht über Religion und Politik (wobei jede Kultur, jede Nation, jede Klasse ihre eigenen „No-Go-Areas“ hat). Derzeit sind die Tabu- grenzen ausgesprochen diffizil, vor allem bei der Diskussion über Flüchtlinge (oder sollte man besser Migranten sagen?), „Person/ people of colour“ (abgekürzt oft „poc“, das heißt Menschen nichtweißer Abstammung) und sexuelle Verhaltensweisen, die nicht dem traditionellen christlichen Eheverständnis entsprechen. Über das, was in diesen strittigen Fragen gesagt (oder auch nur gedacht) werden darf (Tabus einhalten) bzw. gesagt werden muss (Tabus verletzen), gehen die Meinungen so weit auseinander, dass Freundschaften zerbrechen und Familien oft nur noch ohne Streit beisammen sein können, wenn bestimmte Themenfelder konsequent beschwiegen werden. Auch durch viele Gemeinden geht hier ein Riss. Das Unsagbare wird so dominant, dass alles Gesagte seine Bedeutung verliert. Vor Gott gibt es keine Tabus Wie sollen wir damit umgehen? Soll man sich an Tabus „um des lieben Friedens willen“ halten? Antwort: Ein großes dickes Nein! Und dann doch, in Klammern, ein kleines Ja. Es gibt Situationen, in denen es besser ist zu schweigen (vgl. Prediger 3,7), aus Höflichkeit, aus Respekt, aus Rücksicht oder auch aus Scham. Aber auch das, was wir in einer bestimmten Situation verschweigen, kommt ans Licht. Jesus ermahnte seine Jünger, als er sie zum ersten Mal aussandte, sich vor niemandem zu fürchten, denn: „Es ist nichts verborgen, das nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird“ (Matthäus 10,26b) – Tabus haben es mit Macht zu tun, aber die für die Ausübung dieser Macht verantwortlichen Mächte bleiben gerne im Dunkeln und Ungefähren. Es ist wohl kein Zufall, dass Tabuvorstellungen einem kulturellen Kontext entstammen, der keinen Schöpfergott kennt. Die biblische Weltsicht ist dagegen geprägt von einem allmächtigen Schöpfer, der mit seinen Geschöpfen zusammen eine Geschichte hat; ein Schöpfer, der sich offenbart, der sich seinem menschlichen Gegenüber zu erkennen gibt und ihm seinen Willen und seine Gebote mitteilt. Zwar wird in der wissenschaftlichen Darstellung von Tabu immer wieder auf das biblische Begriffspaar „heilig und profan“ verwiesen, aber dabei geht Entscheidendes verloren. Denn „heilig“ ist, was zu Gott gehört bzw. Gott mit seinem Anspruch belegt, darum kann das Heilige förderlich, aber auch gefährlich sein. Aber hinter Heiligkeit steht immer der heilige Gott selbst und nicht eine diffuse Macht. In einer wissenschaftlichen Darstellung der Religionsgeschichte heißt es in dem Abschnitt, in dem die Tabu-Vorstellungen in den ozeanischen Religionen erklärt werden, dass „das ganze Tabu-System als eine schwere Last empfunden“ wurde, denn, so heißt es weiter, andernfalls wäre es nicht zu erklären, dass die Konversion zum Christentum im 19. Jahrhundert „so rasch und weitgehend problemlos vor sich gehen konnte.“3 Was aber ist das Befreiende an dieser Botschaft? Es ist die darin begründete Offenheit und die darin liegende Freiheit, nichts verbergen zu müssen, weil vor Gott schon alles offenbar ist. Das ist zugleich etwas Erschreckendes, aber eben auch etwas zutiefst Befreiendes. Die Schonungslosigkeit des Gerichts vor Gott ist, dass wir nichts verschweigen können. Alles Tabuisierte, alles Verdrängte, Versteckte, Verborgene und Unberührte kommt ans Licht. Die Gnade des Gerichts aber liegt darin, dass genau dies geschieht: dass unsere Ängste, Nöte, Zweifel und einsamen Kämpfe gegen Sünde, Verzweiflung, Anfechtung, dass all das, was uns von unseren Mitmenschen und oft auch von uns selbst entfremdet, aufgedeckt und gewürdigt wird. Dass also zur Sprache kommt, was wir verschweigen mussten oder sollten, obwohl es uns so schwer zu schaffen macht. Dass die Tabus – ob selbst auferlegt oder von einem übermächtigen „man“ – dann endgültig zerbrechen. Paulus schreibt von dieser Sehnsucht nach Klarheit in 1. Korinther 13,9–12: Dann, am Ende, „werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ Es wird beim Jüngsten Gericht und im Himmel keine Tabus mehr geben, weil wir vor Gott nichts verbergen können und es darum auch nicht mehr erst versuchen müssen. Sollten wir deshalb nicht jetzt schon anfangen, aus dieser Freiheit der Kinder Gottes heraus die Tabus in unseren Beziehungen aufzuklären? Miteinander reden, indem wir auch die Dinge „herauslassen“, die uns von innen her auffressen? Es würde uns als Menschen gut tun, als Gemeinden, als Familien, als Volk. mission weltweit 11–12/2018 Es wird beim Jüngsten Gericht und im Himmel keine Tabus mehr geben, weil wir vor Gott nichts verbergen können und es darum auch nicht mehr erst versuchen müssen. 3 Stöhr, Mana und Tabu, 171 Literaturhinweise: Michael Braun, Geheimes Wissen, verborgene Sprache, verbotene Bilder – Was ist tabu?, in: ders., Probebohrungen im Himmel: Zum religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur, Freiburg i. Br. 2018, 47–66. Hans-Jürgen Greschat, Art. „Mana und Tabu“. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 22 (1990), 13–16. Jens Kreinath, Artikel „Tabu“. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (4. Aufl.,), Bd. 8 (2005), 3f. N. P. Moritzen, Artikel „Tabu“. In: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, Bd. 3 (1994), 1954. Axel Schmidt, Artikel „Tabu“. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 5 (2001), 160–162. Waldemar Stöhr, „Mana und Tabu – Die ozeanischen Religionen“. In: Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, Bd. III/2: Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zur Gegenwart, Freiburg u.a. 1991, 143–183. weiterdenken >> sonderbeitrag von prof. Dr. Roland deines

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