„Vor unserer Haustür werden Menschen gefoltert, versklavt und ausgebeutet“
- 09.10.2020
- 10:30
- Deutschland, IHL, Liebenzeller Mission
Hunderttausende Frauen müssen in Deutschland als Zwangsprostituierte arbeiten. Dazu werden sie oft unter Gewalt aus ihren Heimatländern verschleppt oder unter falschen Versprechungen hierher gelockt. „Mission Freedom“ mit Sitz in Hamburg kämpft dagegen an. Die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter geben den Opfern des Menschenhandels eine neue Perspektive für ihr Leben. Die IHL-Studentin Isabella Summerer absolvierte ein halbjähriges Praktikum bei der Organisation und berichtet, was sie dort gemacht hat und wie Christen den betroffenen Frauen helfen können.
Isabella, wie kam es zu dem Praktikum?
Der Studiengang Theologie und Soziale Arbeit der Internationalen Hochschule Liebenzell umfasst ein sechsmonatiges Praktikum in einer sozialen Einrichtung. Ich stellte bei der Suche meiner Praktikumsstelle drei Kriterien auf: Es sollte im Ausland, im fünften Semester und auf keinen Fall eine Arbeit ausschließlich mit Kindern oder Frauen sein. Doch als ich dann durch einen Vortrag von Gaby Wentland, der Gründerin und Vorstandsvorsitzenden von „Mission Freedom“, über Zwangsprostitution in Deutschland aufmerksam gemacht wurde, änderte sich meine Einstellung schlagartig. Ich hätte niemals gedacht, wie schlimm die Umstände für die meisten Prostituierten bei uns im Land sind. Die große Mehrheit verkauft sich aus persönlicher Not heraus oder wird dazu gezwungen. Zu hören, dass quasi direkt vor unserer Haustür Menschen gefoltert, versklavt und ausgebeutet werden, bewegte mich so sehr, dass ich unbedingt selbst aktiv werden wollte. Zeitpunkt und Ort meines Praktikums war mir plötzlich überhaupt nicht mehr wichtig. So kam es, dass ich in Hamburg im Schutzhaus von „Mission Freedom“ für Opfer aus dem Menschenhandel und sexueller Ausbeutung arbeitete.
Und warum hast du dich für diese schwere und belastende Arbeit entschieden?
„Mission Freedom“ vereint christliche Werte und aktiv gelebten Glauben mit fachlicher Kompetenz. Mir war es wichtig, nicht nur Erfahrungen in der Sozialarbeit zu sammeln, sondern auch die Hoffnung Jesu und die Kraft des Gebets in die Arbeit miteinfließen lassen zu können. Gerade im Bereich Menschenhandel wird man mit grausamen Wahrheiten und Erfahrungen konfrontiert. Schnell stößt man an seine Grenzen im persönlichen Umgang damit. Deshalb beeindruckte mich umso mehr das feste Gottvertrauen, mit dem das Team sich in unfassbar finstere Themenbereiche wagt.
Was hast du in deinem Praktikum konkret gemacht?
Der Schwerpunkt meines Praktikums lag auf der Betreuung der Klientinnen im Schutzhaus-Alltag. Dazu gehörte Beziehungsaufbau, Freizeitgestaltung, Sprachunterricht, Begleitung zu Terminen (zum Beispiel zur Therapie, ins Krankenhaus oder zu Ämtern), seelsorgerliche Gespräche, Unterstützung bei bürokratischen Angelegenheiten, hauswirtschaftliche Tätigkeiten und Mitarbeit in der Öffentlichkeitsarbeit. Ziel dabei war immer, den Frauen zu vermitteln, dass sie wertvoll sind und ein Leben in Freiheit verdient haben!
Was hat dich besonders bewegt bzw. berührt?
Mich hat es sehr bewegt zu sehen, wie schlimm die seelischen und körperlichen Folgen von sexueller Ausbeutung sind. Der äußere Ausstieg ist erst der Anfang eines langwierigen, schmerzhaften Heilungsprozesses. Die Opfer müssen sich ihren schlimmen Traumata stellen, um es aufzuarbeiten und gleichzeitig einen Umgang mit den körperlichen und seelischen Folgen finden. Bewegt hat es mich auch, ganz neu zu erkennen, dass Jesus Christus in das Elend dieser Welt gekommen ist. Er ist mitten im Leid, weil er sich selbst davon nicht verschont hat. Das unvorstellbare Opfer von Jesus am Kreuz verstehe ich jetzt tiefer als zuvor.
Wie können Christen den Frauen konkret helfen?
Zum einen durch Aufklärung. Christen und Nicht-Christen müssen sich den bedrückenden Fakten stellen und anfangen, sich zu informieren. Das gesellschaftliche Bild von Prostitution und auch die Darstellung in vielen Medien weicht enorm von der Realität ab. Erst eine Aufklärung der Gesellschaft kann zu nachhaltigen Veränderungen führen. Die Organisation A21 veranstaltet zum Beispiel regelmäßig in Großstädten wie Stuttgart einen „Walk for Freedom“. Das ist eine Demonstration in Form eines Schweigemarsches durch die jeweilige Stadt, um Passanten auf das Thema aufmerksam zu machen. Jeder kann dazukommen und Teil davon sein! Christen können zum anderen durch Gebet helfen. Es braucht viele treue Fürbitter, die für die Frauen und Helfer beten. Zwangsprostituierte brauchen viel Mut und manchmal auch echte Wunder, dass sie freikommen können. Wer ihnen helfen will, stößt nicht selten auf ernst zu nehmenden Widerstand von Tätern und vielen persönlichen Herausforderungen bei der Arbeit. Betet für übernatürlichen Schutz und Weisheit! Es benötigt meist viele Mitarbeiter aus unterschiedlichsten Fachgebieten, um allein einer Betroffenen zu helfen. Da die Schäden der Gewalterfahrungen meist außergewöhnlich schwer und komplex sind, braucht es sehr zeit- und kostenintensive Begleitung, um diese verarbeiten zu können. Christen sollten ferner mit offenen Augen durch die Welt gehen. Christliche Gemeinden könnten ein Streetwork-Team starten, mit dem Ziel, hilfesuchende Frauen direkt in den Rotlichtmilieus zu erreichen. Aber Zwangsprostitution gibt es nicht nur in großen Städten, sondern versteckt sich auch im ländlichen Bereich, beispielsweise in ablegenden Häusern. Meine Bitte: Lasst uns unsere Blicke von Gott schärfen und in der Erwartung leben, dass er übernatürliche Begegnungen schenkt, wenn wir uns darauf einlassen.
Info:
Schätzungen gehen davon aus, dass es etwa 400.000 Prostituierte in Deutschland gibt, wobei die Dunkelziffer um einiges größer vermutet wird. Präzisere Angaben werden dadurch erschwert, dass viele Frauen dieser Tätigkeit nebenbei oder kurzzeitig nachgehen. Laut Polizei sind rund 90 Prozent aller Prostituierten Zwangsprostituierte. Die Anzahl ihrer Kunden in Deutschland wird auf täglich etwa 1,2 Millionen geschätzt.