MISSION weltweit – Ausgaben 2020

20 ratlos Die ausgestreckten Arme helfen beim Balancieren, aber das allein reicht nicht aus. Die Beine, die das ganze Körperge- wicht tragen, müssen fest und möglichst gerade auftreten, damit der Lauf gelingt. Es braucht also eine stabile Mitte, die mit den Armbewegungen immer wieder in Balance gebracht wird. Eine stabile Mitte benötigen wir auch im Umgang mit der Bibel. Die wird aber, so mein Eindruck, immer kleiner beziehungs- weise leichter. Dafür werden die Arme (oder „Flügel“) größer und schwerer. Biblische kaffeetassenfrömmigkeit Den einen Flügel könnte man als biblische Kaffeetassenfrömmigkeit bezeichnen. Da wird das geistliche Leben dominiert von Postkartensprüchen mit harmonischen Bild- hintergründen, Liedern, in denen Gott sein Nahe- und Vatersein zuspricht, Tassen und Kerzen, die Raum und Seele zum Schwin- gen bringen, Feiern und Fröhlichsein in der Gemeinschaft Gleichgesinnter und dem Erleben von Gottes Für-mich-Dasein. Geborgenheit allenthalben, das große Glück, weil einer für mich sorgt, alles Böse von mir fernhält, meine Sünden (was ist baumstämme am wegrand im wald laden nicht nur Kinder zum balancieren ein. auch erwachsene nehmen diese herausforderung gerne an. wildrudernd mit beiden armen versuchen sie, über den stamm zu kommen, wo Kinder spielerisch leicht entlangrennen. ratlos vor dem verlust der mitte cher Bibelkenntnis, die aber nicht in die Weite, sondern in die Enge führt. Dunkle Stellen in der Schrift (ja, die gibt es!) wer- den mit großer Leidenschaft und Scharf- sinn zu erklären versucht, nicht selten mit Blick auf die Endzeit und die Zukunft der Gemeinde. Die unfehlbare und irrtumslose (zwei Ad- jektive, die interessanterweise in der Bibel nicht vorkommen) Wahrheit der Bibel ist das scharfe Schwert, mit dem die Nebel des Zeitgeists zerteilt werden. Wer an der Schrift festhält, kann nicht irren, und irgendwie scheinen alle zu wissen, was es mit der Schrift auf sich hat. Es kann keine offenen Fragen geben, weil Gott verspro- chen hat, uns in alle Wahrheit zu führen. Zweifel und Fragen sind Zeichen des Klein- oder Unglaubens. Verlust der Mitte Ich kann beide Seiten verstehen, und bei- de bewahren ein wichtiges Anliegen: Per- sönliches Angesprochensein, Zuspruch, Trost, Ermutigung, das muss und darf sein – auch auf der Kaffeetasse. Auf der ande- ren Seite Vertrauen in die Verlässlichkeit des Wortes Gottes, dessen Wahrheit nicht nur in geistlichen, sondern auch in histori- schen Fragen grundlegend wichtig ist, weil der biblische Gott sich dadurch auszeich- net, dass er in der Geschichte handelt. Und doch: Mir ist es bei den einen zu warm und bei den anderen zu kalt. Ich frage das?) vergibt und mir am Ende fröhlich lächelnd entgegenläuft, um mich in den großen Festsaal des Himmels zur immer- währenden Anbetung abzuholen. Das ist eher Bibel light – was zählt, sind die weni- gen Verse, die einen direkt ansprechen, die Zuspruch und Selbstvergewisserung ver- mitteln: Ich bin gewollt; ich bin okay so, wie ich bin; Gott liebt mich und nimmt mich an, immer und bedingungslos. Schwierige und herausfordernde Texte bleiben außen vor, biblische Zusammen- hänge spielen kaum eine Rolle und die Anstößigkeit des christlichen Glaubens ist nahezu aufgehoben. Biblische Verbissenheit Aber es gibt nicht nur diese von emotiona- len Farbtupfern geprägte Frömmigkeit mit ihrem hohen Erlebnisgehalt und ihrer bib- lischen Bescheidenheit, sondern daneben eine fast schon verbissene Bibelfrömmig- keit. Sie macht weniger mit theatralisch inszenierten Veranstaltungen als mit Ta- gungen, Konferenzen und immer neuen noch bibeltreueren Verlagsgründungen oder Organisationsbemühungen von sich reden. Hier begegnet man oft erstaunli-

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