MISSION weltweit – Ausgaben 2020
25 mission weltweit 7–8/2020 Wähler an sich binden können, zeigt sich ebenso in der Christenheit und der evan- gelikalen Bewegung: Immer mehr Häupt- linge können immer weniger Indianer hin- ter sich vereinen. Wenn ich recht sehe, sind es mindestens vier (vermutlich aber mehr) große Lager, in die sich die Bewegung teilt: 1. die Stärkung von Bibel und Bekenntnis Das von Ulrich Parzany gegründete „Netz- werk für Bibel und Bekenntnis“ bemüht sich um eine Erneuerung in der Tradition der Bekennenden Kirche und der Bekennt- nisbewegung, indem mit apologetischer Arbeit die theologischen Verwerfungen und Verirrungen innerhalb und außerhalb der evangelikalen Bewegung aufgezeigt werden. Ich schätze die theologische Klarheit und biblisch-theologische Fundierung dieser Schwestern und Brüder sehr. Ulrich Par- zany steht hier in der Tradition von Evan- gelisten wie Wilhelm und Johannes Busch und Gerhard Bergmann, die in den 1950er- und 1960er-Jahren eine maßgebliche Rol- le im Bekenntniskampf gegen die Theolo- gie Rudolf Bultmanns und die theologische Liberalisierung jener Jahre innehatten. Allerdings richtet sich die neue Bekennt- nisbildung nicht vorrangig gegen theologi- sche Merkwürdigkeiten in der universitä- ren Theologie oder den Kirchen. Die Gründung dieses Netzwerkes war eine Reaktion auf den theologischen Kurs der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung und der Evangelischen Allianz unter dem Vor- sitz Michael Dieners. Im Mittelpunkt steht vor allem ein Thema: die Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität. Die Gründung des Netzwerkes hat einen Riss sichtbar gemacht und eine Spaltung voll- zogen, die ich und viele andere gerne ver- mieden hätten. Man mag diesen Schritt innerhalb der neuen Bewegung als not- wendig erachten, aber ob man geeint oder zersplittert mehr erreichen kann, ist noch nicht ausgemacht. Vielleicht setzt sich hier auch nur die lange Geschichte der protes- tantischen Spaltungen fort. Auch die Fokussierung auf eine einigende Person ist verständlich und erklärbar. Die Frage ist, was dieses Netzwerk zusammenhält, wenn es nicht mehr von Ulrich Parzany geführt wird und wenn einmal die Frage beant- wortet werden muss, „wofür“ man arbei- ten will und nicht nur „wogegen“. 2. die Befreiung vom konservativ- evangelikalen Ballast Eine zweite Linie formiert sich um eine Gruppe von Theologinnen und Theologen, die unter anderem durch die Internet- Plattform www.worthaus.org eine weite Verbreitung findet. Mit theologischer Bril- lanz, hohem Unterhaltungswert und evan- gelistischer, sozial-missionarischer und innovativer Leidenschaft hat sich hier eine Aufklärungsbewegung gebildet, die den konservativ-evangelikalen „Ballast“ der Auseinandersetzungen um Fragen der Sexualethik (vor allem die Debatte um die Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexuali- tät) und des Lebensrechts (Abtreibungsde- batte) hinter sich lassen wollen und sich selbst teilweise als „postevangelikal“ ver- stehen. Sie sprechen damit vielen jungen (Post-)Evangelikalen aus der Seele, die nicht mehr die Schlachten und Kämpfe der geistlichen Väter und Mütter führen wol- len, welche die evangelikale Bewegung aus ihrer Sicht in eine strategische Sack- gasse geführt haben, aus der sie nicht mehr geistlich lebendig herauskommt. Es geht hier um theologische Selbstbefrei- ung und Selbstermächtigung, sodass die Vertreter dieser Position sich weniger einer gemeinsamen theologischen Mitte als vielmehr einem gemeinsam empfunde- nen Gefühl einer Einengung verbunden wissen. Die Gemeinsamkeit liegt in der Überwindung konservativer theologischer und ethischer Positionen, die man vor allem im klassischen Evangelikalismus und Pietismus verortet. Hier wird mit gro- ßem theologischem Geschütz auf über- kommene Lehren und Überzeugungen gezielt und mit spitzen Pointen gefeuert. Das evangelikale und/oder pietistische Bibelverständnis wird als naiv empfunden und als nicht mehr anschlussfähig an das Wissen der Gegenwart. Gleichzeitig wer- den von diesem Kreis bisweilen hervorra- gende Bibelarbeiten und Vorträge gehal- ten, die eine große Reichweite erzielen. Ich schätze durchaus den Mut zum Auf- bruch und die innovative und missionari- sche Kraft, kann aber vielen theologischen Entscheidungen nicht folgen, weil sie mich biblisch-theologisch nicht überzeugen und weil man mit der Preisgabe der alten theo- logischen und ethischen Positionen bald vor neuen theologischen und ethischen Fra- gen stehen wird. Alle theologischen oder missionarischen Aufbrüche haben spätes- tens in der zweiten Generation gemerkt, dass man die Aufgabe christlicher Ethik nicht loswird. Wenn wir uns von der klassi- schen evangelikalen Sexual- und Lebens- ethik verabschieden, werden wir früher oder später wieder von neuen und anderen Fragen eingeholt werden. Wenn wir heute die bisherigen Positionen in Sache gleich- geschlechtlicher Sexualität oder voreheli- chem Geschlechtsverkehr räumen, stehen wir morgen vor der Frage, wie wir poly- „innere spannungen in der evangelikalen Bewegung erlebten einen eruptiven Ausbruch, analog zu einem Vulkanausbruch.“ ratlos
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