MISSION weltweit – Ausgaben 2020

24 ratlos Manchmal machen nicht nur Begriffe eine Karriere, sondern auch einfache Silben. Eine Silbe, die in den vergangenen Jahr- zehnten auf eine gewaltige Karriere zurückblicken kann, ist die Vorsilbe „post“, die aus dem Lateinischen stam- mend das bezeichnet, was „nach“ etwas kommt. Wenn kluge Menschen sich bemü- hen, unsere Gegenwart zu beschreiben, dann fallen garantiert Begriffe, die mit „post“ beginnen. Die geistesgeschichtliche Epoche der „Postmoderne“ (= nach der Moderne) soll unsere Gegenwart beschrei- ben, die nicht mehr zur Epoche der Moder- ne gehört, von der man aber auch noch nicht so genau weiß, was sie eigentlich sein wird. In der Politik spricht man immer öfter von einer „postparlamentarischen“ Zeit, weil die Zweifel wachsen, ob demokratisch gewählte Parlamente überhaupt noch schnell genug und vor allem noch mehr- heitsfähig genug sind, um die immer kom- plexer werdenden und in immer kürzeren Zeitabständen auftretenden Probleme der Gegenwart zu bewältigen. Auch im Blick auf Religion und Glaube begegnet man der Silbe allenthalben: Man spricht von einer „postsäkularen“ Gesell- schaft, wenn man die sich ausbreitende Religiosität beschreiben will, welche eine Gesellschaft durchdringt, von der man bis vor 30 Jahren noch dachte, dass sie immer ratlos vor der Zersplitterung der evangelikalen Bewegung Vor diesem Hintergrund war es absehbar, dass früher oder später diese inneren Span- nungen in der evangelikalen Bewegung einen eruptiven Ausbruch erlebten, analog zu einem Vulkanausbruch. Der Ende 2015/Anfang 2016 ausgebrochene Streit zwischen Michael Diener, dem Präses des Gnadauer Verbandes und damals noch Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz, und Ulrich Parzany, dem früheren Generalsekretär des CVJM-Gesamtverban- des, ProChrist-Evangelisten und vermut- lich bekanntesten und prominentesten Vertreter der evangelikalen Bewegung in Deutschland, war so ein Vulkanausbruch. Er machte theologische Spannungen sicht- bar, die nicht nur zwischen den beiden Protagonisten existierten, sondern seit vie- len Jahren in der evangelikalen Bewegung spürbar und hörbar waren. Seither zersplittert sich diese Bewegung zusehends und beweist damit zunächst einmal, dass auch sie von den großen Strö- mungen der Individualisierung und Plura- lisierung nicht bewahrt wird. Was im Deutschen Bundestag sichtbar wird, in dem immer mehr Parteien immer weniger säkularer wird und sich mit der fortschrei- tenden Modernisierung und Liberalisie- rung das Religiöse von selbst erledigt. Gleichzeitig ist vermehrt von einer „post- christlichen“ Epoche zu lesen, weil diese neue Religiosität sich mehrheitlich nicht mehr im christlichen Glauben beheimatet und schon gar nicht in den etablierten For- men christlicher Gemeinden, Kirchen und Institutionen. Im Rahmen der Kirchen spricht man von einer „postkonfessionellen“ Zeit, weil die grundlegenden Bekenntnisse („Konfessio- nen“) der traditionellen Kirchen, die in der Regel aus der Reformationszeit stammen, für immer mehr Christen immer weniger Bedeutung haben – sofern sie überhaupt noch wissen, was ein Bekenntnis ist und wozu es gut ist. Von daher war es nur eine Frage der Zeit, bis auch der Begriff „postevangelikal“ das Licht der Welt erblickte. Er will das Phäno- men beschreiben, dass sich immer weniger pietistische, freikirchliche oder allgemein konservative Christen mit dem Adjektiv „evangelikal“ identifizieren wollen und darum nach einer neuen „Identität“ suchen, ohne schon genau zu wissen, wie die denn aussehen könnte. Mit einem „postevangeli- kalen“ Glauben wird deshalb ein Frömmig- keitsstil bezeichnet, der irgendwie am Erbe des Evangelikalismus anknüpft, aber dieses zugleich überwinden will. Sie stehen für unterschiedliche Positionen innerhalb der evangelikalen Bewegung: Ulrich Parzany (li.) und Michael Diener. foto: pRochRist/m. WEiNBRENNER foto: istockphoto.com/JUANcAt foto: EV. GNAdAUER GEmEiNschAftsVERBANd

RkJQdWJsaXNoZXIy NjU1MjUy