Stuttgarter Gottesdienst- und Gemeindestudie

Und so kommt es zu aufregenden Entdeckungen »gegen den Trend«, über die breit diskutiert wird. Eine sorgfältige Analyse der religiösen Landschaft Londons seit 1980 führt zur überraschenden Entdeckung wahrhafter religiöser Vitalität, was die These einer Desäkularisierung der Stadt plausibel sein lässt.7 Auf der einen Seite bleibt London zwar hochsäkular auf einer europäischen Linie – auf der anderen Seite ist es das enorme Wachstum aller nur denkbaren Migrantengemeinden, »likely to raise the profile of religion in local community«8, in eins mit der durchaus am Markt vital bleibenden öffentlichen Rolle der anglikanischen Parochien und ihrer Kathedralen, die London als eine globale Metropole profilieren. Alles in allem geben nur 20% der Londoner an (mit die geringste Zahl in England), keiner Religion anzugehören und etwa 50% verstehen sich als Christen9 - Zahlen, die in Deutschland in Städten nicht mehr erreicht werden. London gewinnt ein globales Profil und ragt damit aus dem typisch europäischen säkularen Sonderweg heraus. Zusammenfassend ist die These Grace Davies: »that we are becoming aware of a global narrative overlaying the European one.«10 Die überkommenen staatskirchlichen europäischen Strukturen, die die religiöse Anpassungsfähigkeit und Kreativität des Christentums einschränken, weichen flexibleren, aus dem globalen Süden stammenden organisatorischen und vor allem liturgischen Formen. Religion boomt in der Stadt – während sie auf dem Lande abstirbt. Eine neue Erfahrung! Wie letztlich durchgreifend diese Prozesse sind, lässt sich nicht mit Sicherheit voraussagen. London kann ein Ausnahmefall bleiben. Aber die Londoner Einsichten verändern die Blickrichtung der Soziologen hin zu realen Alltagsprozessen, in denen Glaube und Religion nach wie vor – und eben auch ganz neu – eine wichtige Rolle spielen. Uta Pohl-Patalong hat erst vor kurzem auf ein eigentlich erstaunliches Forschungsdefizit hingewiesen, nämlich, dass Untersuchungen dazu fehlen würden, »was Menschen in verschiedenen Kontexten und Formen als Erleben des Evangeliums beschreiben und wie sie diese Erfahrung deuten.«11 Platt gesagt: Genau so, wie der Glaube in den überkommenen ehemals staatskirchlichen Anstaltsstrukturen lediglich verwaltet (und reguliert) Ghana. Early Indigenous Expressions of Christianity, Waco 2020. Und nicht vergessen natürlich die beiden Blumhardts in Boll mit Ausstrahlungen in alle Welt, nach China, in den religiösen Sozialismus und zu den Anfängen des Social Gospel in den USA. Vgl. dazu Gary Dorrien: The Legacy of the social Gospel, in Black and White. In: Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Band 10, Leipzig 2017, 223 – 240. 7 David Goodhew/Anthony–Paul Cooper: The Desecularisation of the City. London’s Churches, 1980 to the Present, Abington/New York 2019. Ich vermute, dass Ähnliches auch über New York (Manhattan) gesagt werden kann. 8 A. a. O., 360. 9 Grace Davie: London’s Churches. Sociological Perspectives, in: David Goodhew/Anthony-Paul Cooper, A. a. O., 345 – 362, hier S. 351. 10 A. a. O., 360. 11 Uta Pohl-Patalong: Kirche gestalten. Wie die Zukunft gelingen kann, Gütersloh 2021, 19. Geleitwort 11

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